Die Kunst des Loslassens – ein Lebensexperiment

Seit April 2021 befinde ich mich in einer Art Lebensexperiment, ich übe mich in der Kunst des Loslassens. Die diesem Selbstversuch zu Grunde liegende Frage lautet: Ist es möglich, lustvoll, nachhaltig und gemeinschaftsorientiert zu leben nach Kriterien, die den Glaubenssätzen unserer Leistungsgesellschaft zuwiderlaufen? Diese Glaubenssätze lauten:

  • von nichts kommt nichts,
  • nur der steinige Weg führt zum Erfolg,
  • wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen,
  • vor den Genuss haben die Götter Mühsal und Plage gesetzt.

An die Stelle dieser quälenden und auf Selbstausbeutung abzielenden Sätze habe ich folgende persönliche Leitlinien gesetzt. Ich möchte:

  • Leerlauf zulassen und auf kreative Eingebungen warten, anstatt sie herbeizwingen zu wollen,
  • mir Zeit lassen,
  • nach Gefühl entscheiden,
  • Dinge vorbeiziehen lassen (wie etwa Jobangebote oder Arbeitslosengeld), die gefühlsmäßig nicht zu mir passen, auch wenn es vernünftiger wäre, sie anzunehmen,
  • Dinge tun, für die das Herz sich öffnet,
  • Dinge nicht tun, zu denen ich keine Lust dazu habe, z.B. verbissen Sport treiben (stattdessen Bewegung im Alltag nutzen),
  • menschliche Beziehungen in den Vordergrund allen Handelns stellen und dabei nicht auf den Nutzwert achten (das Gegenteil von „Vernetzung“),
  • Dinge um ihrer selbst willen tun,
  • prozessorientiert statt zielorientiert leben,
  • kaum Nachrichten sehen, sehr wenig Medien nutzen, sondern lieber den eigenen Augen trauen (wie es Paul Watzlawik empfohlen hat),
  • auf Reisen, Reichtum, Applaus, Aufstieg verzichten. Lernen, mit wenig auszukommen,
  • die Umgebung achtsam und mit viel Zeit betrachten und auf mich wirken lassen,
  • zuversichtlich miterleben, was so passiert.

Dem liegt folgende Überlegung bzw. Beobachtung zu Grunde: Trotz gewaltigen Wohlstands gelingt es der Mehrheit der Menschen in der westlichen Welt nicht, zu einem auch nur einigermaßen erfüllten, genussvollen und entspannten Leben zu finden. Die Wellnessindustrie boomt, doch die meisten Angebote scheinen nur ein weiterer Dreh an der Schraube der Selbstoptimierung zu sein. Die Ratgeberindustrie ist selbst Teil des Leistungsapparates. Eine „Auszeit“ zu nehmen nützt eben nichts, sofern sie nur darauf ausgerichtet ist, das Individuum wieder für die Erfüllung äußerer Normen fit zu machen. Daran scheitern auch moderne psychiatrische Ansätze wie die Verhaltenstherapie. Die Folge ist eine lawinenartige Zunahme psychischer Krankheiten.

Auch ich habe solche kennen gelernt. In meiner bald 30-jährigen Tätigkeit als Zeitungsredakteur schrammte ich jahrelang am Burnout entlang. Eine mehrjährige Therapie nutzte wenig. 2021 gab mir ein Abfindungsangebot meines damaligen Arbeitsgebers die Chance, etwas anderes auszuprobieren.

Ermutigt zum Ausstieg aus dem „System“ wurde ich von meiner Lebensgefährtin Annette Voith, die Jahre zuvor einen ähnlichen Schritt gewagt hatte nach vielen Jahren auf der Karriereleiter als Personalerin, Betriebswirtschaftlerin und „rechte Hand des Chefs“. Sie wurde freiberufliche Therapeutin – trotz sehr unsicherer wirtschaftlicher Perspektive.

Seitdem bin ich als selbständiger Autor tätig, arbeitet nebenbei als Moderator und helfe meiner Lebensgefährtin bei ihrer therapeutischen Arbeit. Wir haben nebenbei begonnen, kleine Lesungen, Ausstellungen und Konzerte zu veranstalten.

Bei der Gestaltung meiner Lebensweise greife ich zurück auf die Überlegungen vorindustrieller Denkerinnen und Philosophen, die teils in sehr schwierigen Zeiten lebten und arbeiteten, dabei jedoch zu Schlussfolgerungen universeller Gültigkeit kamen. Viele von ihren Ergebnissen kontrastieren das schiere Leistungsprinzip des Kapitalismus (der ja erst im 19. Jahrhundert entstand), nämlich den Glaubenssatz des Anhäufens um des Anhäufens willen. Besonders beeindruckt haben mich:

  • das Lustprinzip des Maßhaltens nach Epikur: Lust ist für Epikur die Abwesenheit von Unlust. Je weniger materielle Güter ich benötige, um Unlust (hier verstanden als Mangel) zu beseitigen, desto besser;
  • die Überlegung des Aristoteles, wonach Tugend ein individueller und kein absoluter Wert ist: Tugend verweist demnach auf die Eigentümlichkeit des Menschen. Tugendhaft ist ein Mensch, der Tugenden maßvoll so lebt, dass sie zu seinem Charakter passen;
  • Montaignes Geschick, sich seine innere Freistatt inmitten der „Herdentollheit“ (Stefan Zweig) der Religionskriege des 16. Jahrhunderts zu erhalten;
  • das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit als Prinzip innerer Freiheit, wie Emil Cioran es verstanden hat;
  • die Überzeugung der andinen Urvölker (sumak kawsay), wonach „gut leben“ das höhere Ideal darstellt als „besser leben“. Dieser Überzeugung liegt eine zirkuläre Lebensauffassung zu Grunde, wonach alles Sein zu einem Ursprung zurück strebt (im Gegensatz zur linearen Auffassung der Industriegesellschaft, die der Wachstumsgesellschaft zu Grunde liegt). In Ecuador besitzt diese von Alberto Acosta kodifizierte Lebenshaltung seit den Nullerjahren Verfassungsrang.

Ich fühle mich gut gerüstet für dieses Experiment, weil ich spüre, dass die oben genannten Grundsätze in mir angelegt sind. Ob es sich dabei um eine ererbte, erworbene oder allgemein menschliche Fähigkeit handelt, weiß ich nicht. Günstig hat sich sicherlich mein Aufwachsen in den wenig leistungsfixierten 1970er und 1980er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ausgewirkt, die mir einen Referenzpunkt zu einer alternativen Lebensweise gegeben haben, der vielen späteren Generationen fehlt.

Das Experiment hat einen offenen Ausgang, fühlt sich bislang aber sehr gut an. Selbst wenn es scheitert, brauchen wir uns zumindest nicht vorzuwerfen, es nicht versucht zu haben.

Mai 2022