Sebastian Schoepp ist Schriftsteller und Journalist. Er hat mehrere Bücher für den Westend-Verlag in Frankfurt geschrieben, zuletzt "Rettet die Freundschaft" (2022). Viele Jahre war er für die Süddeutsche Zeitung als außenpolitischer Redakteur zuständig.
Seit April 2021 befinde ich mich in einer Art Lebensexperiment, ich übe mich in der Kunst des Loslassens. Die diesem Selbstversuch zu Grunde liegende Frage lautet: Ist es möglich, lustvoll, nachhaltig und gemeinschaftsorientiert zu leben nach Kriterien, die den Glaubenssätzen unserer Leistungsgesellschaft zuwiderlaufen? Diese Glaubenssätze lauten:
von nichts kommt nichts,
nur der steinige Weg führt zum Erfolg,
wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen,
vor den Genuss haben die Götter Mühsal und Plage gesetzt.
An die Stelle dieser quälenden und auf Selbstausbeutung abzielenden Sätze habe ich folgende persönliche Leitlinien gesetzt. Ich möchte:
Leerlauf zulassen und auf kreative Eingebungen warten, anstatt sie herbeizwingen zu wollen,
mir Zeit lassen,
nach Gefühl entscheiden,
Dinge vorbeiziehen lassen (wie etwa Jobangebote oder Arbeitslosengeld), die gefühlsmäßig nicht zu mir passen, auch wenn es vernünftiger wäre, sie anzunehmen,
Dinge tun, für die das Herz sich öffnet,
Dinge nicht tun, zu denen ich keine Lust dazu habe, z.B. verbissen Sport treiben (stattdessen Bewegung im Alltag nutzen),
menschliche Beziehungen in den Vordergrund allen Handelns stellen und dabei nicht auf den Nutzwert achten (das Gegenteil von „Vernetzung“),
Dinge um ihrer selbst willen tun,
prozessorientiert statt zielorientiert leben,
kaum Nachrichten sehen, sehr wenig Medien nutzen, sondern lieber den eigenen Augen trauen (wie es Paul Watzlawik empfohlen hat),
auf Reisen, Reichtum, Applaus, Aufstieg verzichten. Lernen, mit wenig auszukommen,
die Umgebung achtsam und mit viel Zeit betrachten und auf mich wirken lassen,
zuversichtlich miterleben, was so passiert.
Dem liegt folgende Überlegung bzw. Beobachtung zu Grunde: Trotz gewaltigen Wohlstands gelingt es der Mehrheit der Menschen in der westlichen Welt nicht, zu einem auch nur einigermaßen erfüllten, genussvollen und entspannten Leben zu finden. Die Wellnessindustrie boomt, doch die meisten Angebote scheinen nur ein weiterer Dreh an der Schraube der Selbstoptimierung zu sein. Die Ratgeberindustrie ist selbst Teil des Leistungsapparates. Eine „Auszeit“ zu nehmen nützt eben nichts, sofern sie nur darauf ausgerichtet ist, das Individuum wieder für die Erfüllung äußerer Normen fit zu machen. Daran scheitern auch moderne psychiatrische Ansätze wie die Verhaltenstherapie. Die Folge ist eine lawinenartige Zunahme psychischer Krankheiten.
Auch ich habe solche kennen gelernt. In meiner bald 30-jährigen Tätigkeit als Zeitungsredakteur schrammte ich jahrelang am Burnout entlang. Eine mehrjährige Therapie nutzte wenig. 2021 gab mir ein Abfindungsangebot meines damaligen Arbeitsgebers die Chance, etwas anderes auszuprobieren.
Ermutigt zum Ausstieg aus dem „System“ wurde ich von meiner Lebensgefährtin Annette Voith, die Jahre zuvor einen ähnlichen Schritt gewagt hatte nach vielen Jahren auf der Karriereleiter als Personalerin, Betriebswirtschaftlerin und „rechte Hand des Chefs“. Sie wurde freiberufliche Therapeutin – trotz sehr unsicherer wirtschaftlicher Perspektive.
Seitdem bin ich als selbständiger Autor tätig, arbeitet nebenbei als Moderator und helfe meiner Lebensgefährtin bei ihrer therapeutischen Arbeit. Wir haben nebenbei begonnen, kleine Lesungen, Ausstellungen und Konzerte zu veranstalten.
Bei der Gestaltung meiner Lebensweise greife ich zurück auf die Überlegungen vorindustrieller Denkerinnen und Philosophen, die teils in sehr schwierigen Zeiten lebten und arbeiteten, dabei jedoch zu Schlussfolgerungen universeller Gültigkeit kamen. Viele von ihren Ergebnissen kontrastieren das schiere Leistungsprinzip des Kapitalismus (der ja erst im 19. Jahrhundert entstand), nämlich den Glaubenssatz des Anhäufens um des Anhäufens willen. Besonders beeindruckt haben mich:
das Lustprinzip des Maßhaltens nach Epikur: Lust ist für Epikur die Abwesenheit von Unlust. Je weniger materielle Güter ich benötige, um Unlust (hier verstanden als Mangel) zu beseitigen, desto besser;
die Überlegung des Aristoteles, wonach Tugend ein individueller und kein absoluter Wert ist: Tugend verweist demnach auf die Eigentümlichkeit des Menschen. Tugendhaft ist ein Mensch, der Tugenden maßvoll so lebt, dass sie zu seinem Charakter passen;
Montaignes Geschick, sich seine innere Freistatt inmitten der „Herdentollheit“ (Stefan Zweig) der Religionskriege des 16. Jahrhunderts zu erhalten;
das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit als Prinzip innerer Freiheit, wie Emil Cioran es verstanden hat;
die Überzeugung der andinen Urvölker (sumak kawsay), wonach „gut leben“ das höhere Ideal darstellt als „besser leben“. Dieser Überzeugung liegt eine zirkuläre Lebensauffassung zu Grunde, wonach alles Sein zu einem Ursprung zurück strebt (im Gegensatz zur linearen Auffassung der Industriegesellschaft, die der Wachstumsgesellschaft zu Grunde liegt). In Ecuador besitzt diese von Alberto Acosta kodifizierte Lebenshaltung seit den Nullerjahren Verfassungsrang.
Ich fühle mich gut gerüstet für dieses Experiment, weil ich spüre, dass die oben genannten Grundsätze in mir angelegt sind. Ob es sich dabei um eine ererbte, erworbene oder allgemein menschliche Fähigkeit handelt, weiß ich nicht. Günstig hat sich sicherlich mein Aufwachsen in den wenig leistungsfixierten 1970er und 1980er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ausgewirkt, die mir einen Referenzpunkt zu einer alternativen Lebensweise gegeben haben, der vielen späteren Generationen fehlt.
Das Experiment hat einen offenen Ausgang, fühlt sich bislang aber sehr gut an. Selbst wenn es scheitert, brauchen wir uns zumindest nicht vorzuwerfen, es nicht versucht zu haben.
Ich wurde 1964 in München als Sohn Berliner Eltern geboren, die den Westteil der Stadt nach dem Mauerbau verlassen hatten, weil die deutsche Industrie nun aus den sauren Wiesen Oberbayerns emporwuchs. Ich wuchs in der Kleinstadt Ebersberg bei München auf.
Nach Abitur und Zivildienst studierte ich im Winter 1986/87 in Siena und Perugia italienische Kulturgeschichte.
1987 schrieb ich mich an der Ludwig-Maximilians-Universität München für die Fächer Kommunikationswissenschaft, Romanistik und Amerikanistik ein.
1988 fing ich als Lokalreporter in meinem Heimatort bei den Ebersberger Neuesten Nachrichten an.
1989 lernte ich am Colegio de Espana in Salamanca Spanisch.
1990/91 absolvierte ich ein Zeitungsvolontariatbeim Argentinischen Tageblatt, einer deutschsprachigen Zeitung in Buenos Aires.
1992 trat ich als Redakteur in die Ebersberger Lokalausgabe der Süddeutschen Zeitung ein, bei der ich zehn Jahre blieb – weil mir Lokaljournalismus Spaß machte und ich einen Sinn darin erkannte, über das unmittelbare Lebensumfeld der Menschen zu berichten. 1999 wurde ich dort stellvertretender Büroleiter.
Zusammen mit Freunden gründete ich 1993 in meinem Heimatort die Kabarettbühne altes kino, die es bis heute gibt und die zu einem mittelständischen Kulturunternehmen angewachsen ist.
2001/ 2002 nahm ich ein Sabbatical bei der Süddeutschen Zeitung und ging nach Barcelona, wo ich erfolgreich an einem Postgraduierten-Lehrgang für Journalisten in spanischer Sprache teilnahm, der von der Universitat Barcelona und der Columbia University New York veranstaltet wurde. Das Thema meiner Abschlussarbeit war die ambivalente Rolle Franco-Spaniens im Zweiten Weltkrieg. Später war ich in demselben Lehrgang viele Jahre lang als Dozent für Zeitungsgestaltung tätig.
Von 2002 bis 2003 war ich Chef vom Dienst der kurzlebigen Regionalausgabe der Süddeutschen Zeitung für Nordrhein-Westfalen, anschließend stellvertretender Ressortleiter für die Lokalausgaben der Süddeutschen Zeitung in der Region München mit Personalverantwortung für achtzig Redakteure.
2005 arbeitete ich zwei Monate als resident editor bei der nicaraguanischen Tageszeitung La Prensa in Managua und trat anschließend in die Nachrichtenredaktion der Süddeutschen Zeitung in München ein mit dem Spezialgebiet Spanien und Lateinamerika.
2006 wechselte ich in das Ressort Außenpolitik, wo ich als Redakteur zahlreiche Reportagen, Berichte, Porträts und Analysen über politische und gesellschaftliche Vorgänge verfasste, außenpolitische Texte redigierte und die Korrespondenten der SZ redaktionell betreute.
2011 habe ich meine journalistischen Erfahrungen mit der iberoamerikanischen Welt in ein Buch über Lateinamerika einfließen lassen, es heißt „Das Ende der Einsamkeit“ und ist beim Westendverlag in Frankfurt erschienen.
2014 legte ich ein Buch über Südeuropa nach, das den Titel „Mehr Süden wagen“ trug und als Appell gedacht war, die in der Eurokrise grassierenden Vorurteile gegenüber den Ländern des Mittelmeers zu überdenken.
2015 sollte ich als Korrespondent für die Süddeutsche nach Buenos Aires gehen, doch ich konnte nicht, weil ich mich um meine alten Eltern kümmern musste, die Pflegefälle geworden waren. Die Erfahrungen aus diesen schwierigen Jahren habe ich später in mein Buch „Seht zu, wie Ihr zurechtkommt“ einfließen lassen, das 2018 erstmals erschien und 2023 von Westend als Taschenbuch neu aufgelegt wurde.
Seit April 2021 bin ich selbständiger Schriftsteller, Lektor, Moderator und Coach. Ich schreibe erzählende Sachbücher, die sich mit zwischenmenschlichen Beziehungen und ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung befassen.
Im März 2022 erschien mein Buch „Rettet die Freundschaft“. Es ist der Appell, diese wichtige Sozialbeziehung wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken, insbesondere nach den Einschränkungen der Corona-Pandemie. Nebenbei verfasse ich Essays und Rezensionen und betreue eine Literaturreihe imalten KinoEbersberg.
Seit April 2022 betreibe ich zusammen mit meiner Lebensgefährtin Annette Voith das therapieHaus an der Lehrer-Schwab-Gasse in Ebersberg, wo wir Coaching und kleine Veranstaltungen anbieten, Seminare, Lesungen und Kunstausstellungen. Als Coach ist mein Schwerpunkt das Thema „Kriegsenkel“. Außerdem biete ich „Buch-Coaching“ für Autoren an.
Privat gehe ich am liebsten Wandern in deutschen Mittelgebirgen, wo mir oft tagelang niemand begegnet, was ich angesichts der chronischen Überfüllung gängiger internationaler Reiseziele sehr schätze. Ich liebe philosophische Literatur von Epikur über Ali Hameed bis Slavoj Žižek sowie Romane von Heimito von Doderer, Juli Zeh und Rafael Chirbes. Ich höre gerne Musik von Leuten, die etwas zu mitzuteilen haben: von Paolo Conte über Sven Regener bis John Coltrane.
Haben Sie das Gefühl, ein problemorientiertes Leben mit angezogener Handbremse zu führen? Fühlen Sie sich eingeengt von Glaubenssätzen Ihrer Kindheit wie „Stell dich nicht so an“ oder „Freu dich nicht zu früh“? Haben Sie das Gefühl, nie so recht in Ihre eigene Kraft zu kommen, weil etwas in Ihnen Sie bremst, Ihnen die Zuversicht nimmt und die Zukunft mit einem Schleier der Angst zudeckt?
Vielleicht ist das so, weil Sie ein Kriegskind oder Kriegsenkel sind. So nennt man Menschen, deren Eltern oder Großeltern Krieg, Gewalt und Vertreibung erlebt haben. Oft verbergen solche Menschen Traumata in ihrer Seele, über die sie nie haben sprechen wollen oder können. In vielen Familien herrscht deshalb eine emotionale Distanz, die offene Gespräche und Nähe unmöglich gemacht hat. Oft kommen solche Themen erst zum Vorschein, wenn die Eltern alt und krank werden, gepflegt werden müssen oder verstorben sind.
Seit vielen Jahren widmet sich die Kriegskinder- bzw. Kriegsenkelforschung der Frage, wie solche Traumata über die Generationen hinweg weitergegeben, ja sogar vererbt werden. Viele Menschen spüren das bleierne Erbe ihrer verschleierten Vorfahren in sich, ohne benennen zu können, was sie quält.
Vielleicht erleiden Sie ja auch einen Schmerz, der gar nicht der Ihre ist? Lassen Sie uns darüber sprechen! Ich bin Jahrgang 1964, also selbst ein Kriegskind, meine Eltern haben den Zweiten Weltkrieg als junge Erwachsene erlebt. In meinem Buch „Seht zu wie Ihr zurechtkommt“ bin ich der Frage nachgegangen, was die Kriegsgeneration in unseren Seelen hinterlassen hat und was das für unser Leben bedeutet. Am 19. März 2023 veranstalten wir dazu ein Seminar im therapieHaus an der Lehrer-Schwab-Gasse in Ebersberg.
Haben Sie ein Buch geschrieben, oder möchten Sie gerne eines schreiben? Träumen Sie davon, Ihr eigenes Werk in den Händen zu halten, zu signieren und auf Lesereisen zu gehen? Wissen Sie aber nicht recht, ob Ihr Manuskript zur Veröffentlichung taugt? Ist Ihr Werk schon fertig, es fehlt aber noch an Struktur? Ich berate Sie gerne. Als Autor von mittlerweile fünf Büchern (das sechste ist in Arbeit) weiß ich, worauf es ankommt, was Verlage wollen, wie man Ideen umsetzt, ein Buch gliedert und welche Tricks es gibt, besser zu schreiben. Kontaktieren Sie mich! sebastian(at)sebastian-schoepp.de
Als Buch-Coach und Lektor freut man sich natürlich immer, wenn ein Autor, eine Autorin, etwas veröffentlicht. Dieses Buch aber liegt mir besonders am Herzen: Max A. Edelmann legt „Der unsichtbare Elefant“ vor, ein spannender Roman, der sich einer großen Frage nähert: Wie werden wir die, die wir sind? Was haben die Familie, die Vergangenheit, ja eventuell sogar die deutsche Geschichte damit zu tun? Max A. Edelmann und ich haben lange und intensiv an diesem Buch gearbeitet – und ich meine, es hat sich gelohnt!
Warum wir nicht aus der Spirale des „Immer Mehr“ herausfinden und warum uns das Denken des Südens dabei helfen könnte. Essay von Sebastian Schoepp
Verzicht, daran kann kein Zweifel bestehen, ist das Gebot der Stunde. „Immer weniger“, so scheint es, lautet die Devise nicht nur unserer, sondern auch kommender Tage. Das gibt uns die Politik seit Wochen und Monaten zu verstehen. Verzichten gilt nicht nur als Notmaßnahme gegen die Energiekrise, es steht sogar moralisch hoch im Kurs, denn es darf als selbstlose Maßnahme gegen den Klimawandel und sozusagen als patriotischer Akt gewertet werden im Kampf gegen Putin.
Ungeklärt ist dabei die Frage, wie eine Gesellschaft verzichten, mit immer weniger auskommen soll, die seit Generationen nur ein „immer mehr“ gekannt hat, die persönliche Zufriedenheit und Erfolg mit materiellem Reichtum gleichsetzt, die zum Verschwenden erzogen worden ist und in der die Erinnerung an die Entbehrungen und praktischen kleinen Lösungen der Nachkriegszeit längst verweht ist? Eine Gesellschaft, der jedes Referenzmodell für ein weniger ressourcenzerstörendes Leben abhandengekommen ist, die, mit anderen Worten, nichts anderes kann als Wohlstand?
Man sieht es ja an den ersten Reaktionen auf die Krise. Die Autobahnen in diesem Sommer waren voll wie eh und je, die Urlaubshotels ebenso. Die Menschen tun, was sie immer getan haben: Sie kaufen. Geschäftemacher haben das längst erkannt, wie man aus den Massen nutzlosen Tands ablesen kann, der einem täglich in der Instagram-Timeline und in Google-Ads feilgeboten wird. Wem es an Zuversicht mangelt, bucht einen Mutmacher-Workshop. Wer sich als Klimaretter fühlen will, kauft eine innovative Senfsorte, die auf der Packung verspricht, dass sie klimaneutral hergestellt sei, was auch immer das heißen soll. Wer Gas sparen will, greift zu Patent-Heizlüftern zum Einstöpseln in die Steckdose, kauft Stofftiere zum Erwärmen in der Mikrowelle oder nutzlose Notstromversorgungen, die hübsch trendig aussehen. Zeugs, dessen Herstellung und Verteilung nur den Energieverbrauch weiter in die Höhe treibt und die Armen ärmer macht, weil sie kaufen, auf was sie besser verzichtet hätten.
Krise ist eben ein Konjunkturmotor, sie treibt zu höherer Produktivität an, was ja auch gegen das Frieren helfen könnte. Wir glauben auch in der Krise hingebungsvoll an die Grüne Lüge, wonach wir nicht weniger, sondern nur anders einkaufen sollen, dann werde alles gut. Verzicht üben allenfalls die, die es müssen; die anderen fliegen dann eben über sie im Winter hinweg in wärmere Regionen und verbrauchen dabei ein Vielfaches der Energie, als die unten jemals durch den Verzicht aufs Heizen einsparen könnten.
Das alles überrascht nicht weiter, denn es folgt der marktwirtschaftlichen Logik, die seit jeher lautet: Du hast ein Problem? Dann brauchst Du ein Produkt! Den Grund, warum wir dieser Logik folgen, hat einer der letzten lebenden Kapitalismuskritiker, der Philosoph Slavoj Žižek, mal so formuliert, als er über den Kapitalismus schrieb: „Der irre Tanz seiner bedingungslosen Produktivitätsspirale ist letztlich nichts anderes als eine verzweifelte Flucht nach vorn, um dem lähmenden inhärenten Widerspruch zu entkommen.“ Soll heißen: Jeder Kauf verstärkt zwar das Gefühl, irgendwie in der falschen Richtung unterwegs zu sein – das dann mit noch mehr Kaufen beruhigt werden soll. In der Psychologie spricht man bei solch ambivalentem Verhalten von einer Dissonanz, die als schwer auszuhalten gilt und Psychiatern und Therapeuten viel Arbeit macht – derzeit mehr denn je.
Selbst einer der eifrigsten Verteidiger des Neoliberalismus, Francis Fukuyama, hat kürzlich zugegeben, der Kapitalismus habe es möglicherweise etwas übertrieben nach seinem großen Sieg 1989. Die Geschichte war damals jedenfalls nicht zu Ende, anders als von Fukuyama behauptet, man hat derzeit eher den Eindruck, es wird Geschichte gemacht wie lange nicht. Verklungen sind längst die letzten großen Proteste gegen die Exzesse des Kapitalismus, die Mitte der Zehnerjahre stattfanden. Das mag unter anderem daran liegen, dass dieser von den Menschen längst als systemisch betrachtet werde, wie Žižek schrieb, man könnte auch sagen: als alternativlos. Und wo sollten Kinder auch das Protestieren gelernt haben, die bereits als Kaufhauskunden zur Welt gekommen seien, wie der spanische Romancier Rafael Chirbes mal sarkastisch anmerkte. Wer heute gegen den Kapitalismus protestiert, protestiert genau genommen gegen sich selbst.
Subjekt- und Objektebene überlagern sich, der alte Gegensatz ausgebeutete Klassen gegen Schlotbarone existiert nicht mehr. Wir produzieren und vertreiben unaufhaltsam und in „einsichtiger Hinnahme der Marktgesetze“, wie es Michel Houellebecq ironisch ausdrückte, jeder von uns ist selbst Teil der nie stillstehenden Vermehrungsmaschine, deren Auswüchse wir beklagen. „Der Ausbeutende ist gleichzeitig der Ausgebeutete“, schrieb der deutsch-koreanische Soziologe Byung Chul-Han, „Täter und Opfer sind nicht mehr unterscheidbar.“
Aber ist die Lehre des „Immer mehr“ wirklich so alternativlos, gehört kapitalistische Gier zum Menschen dazu, wie die neoliberalen Think Tanks der Ära Thatcher/Reagan behaupteten? Historisch gesehen eigentlich nicht. Das Gebot der maßlosen Anhäufung ist in dieser Form – genau wie der Nationalismus – eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Die Aufklärung hatte kurz zuvor Gott zu einer Erfindung des Menschen erklärt, der Kapitalismus stellte Arbeit und Produktivität an seine Stelle. Max Weber war es, der behauptete, wir würden deshalb mit so religiöser Inbrunst schuften.
Man muss tief in die Geschichte hinabtauchen, um Modelle zu finden, die beweisen, dass es nicht immer so gewesen ist. Die vorkapitalistischen Stände- und Gildegesellschaften etwa kannten das heutige erbarmungslose Konkurrenzprinzip nicht, man produzierte und arbeitete zunächst nur so viel, wie man zum Leben brauchte. Das „Immer mehr“ war noch nicht zum Selbstzweck geworden. Reste dieser Auffassung sind in mediterranen Gesellschaften zu finden. Der Süden setze „dem mechanisierten Denken des Nordens eine poetisch-ganzheitliche Sichtweise entgegen, die die dem Leben innewohnenden Qualitäten stärker betone als der Quantifizierungsanspruch des Nordens“, schrieb der französische Philosoph Edgar Morin in den Nullerjahren. Spätestens seit der Eurokrise gilt dieses Denken in der EU aber als nicht mehr salonfähig.
Um noch Gesellschaften zu finden, die nicht nach dem linearen Prinzip der zwanghaften Vermehrung von Waren und Dienstleistungen leben, muss man schon hinaufsteigen in die entlegensten Täler der Anden. Dort gilt die Devise sumak kawsay, wonach das „gute Leben“ wertvoller sei als das „bessere Leben“. In Ecuador hat sumak kawsay sogar Verfassungsrang. Es folgt der Vorstellung von einem zirkulären Dasein, in dem alles zu einem Ursprung zurückkehrt, es also nicht viel Sinn macht, stets nach Optimierung zu streben. Konquistadoren, Missionare und Entwicklungshelfer haben seit Jahrhunderten versucht, den Völkern der Quechua und Aymara diese Lebensweise auszutreiben, ohne großen Erfolg. Deshalb gelten diese Regionen als bodenlos rückständig, resignativ und unrettbar verloren für das „normative Projekt des Westens“ (Heinrich-August Winkler).
Aber vielleicht können solche renitenten Gesellschaften immerhin als anthropologische Vergleichs-Testgruppe dienen, die beweist: es geht auch anders. Das Prinzip des „Immer mehr“ wäre demnach kein Naturgesetz, sondern menschengemacht und einer bestimmten Weltgegend zugeordnet, den Industriestaaten nämlich, die seit zweihundert Jahren den Marschrhythmus der Welt bestimmen und dabei unaufhaltsam auf eine Wand zusteuern, wie wir wissen.
Was also tun? In andinen Lehmhütten leben? Nun, dort wissen die Menschen immerhin, wie man auf 3500 Metern Höhe ohne Heizung und fließend Wasser überlebt, könnte man zynisch hinzufügen. Vielleicht aber gibt es ja ein paar Dinge, auf die man leichter verzichten kann als auf warme Füße im Winter. Kurzfristig könnte eine Rückbesinnung auf einen kulturell auch bei uns verankerten Produkt-Konservatismus helfen, den die Nachkriegsgeneration noch beherrschte: Man muss ja nicht gleich die Hemdkragen flicken. Aber vielleicht könnte man auf ein bis zwei Smartphone-Generationen verzichten, weniger streamen, heimische Äpfel statt die aus Neuseeland kaufen. Man könnte das alte, analoge Fahrrad benutzen anstatt als Add-on im Fuhrpark ein E-Bike zu kaufen, das den Stromverbrauch weiter in die Höhe treibt. Man könnte in der Heimat Urlaub machen anstatt wegzufliegen und Wandern gehen anstatt wie der eigene Avatar aufs Smartphone zu starren, wo die perfekte Landschaft simuliert wird, die draußen längst durch Energieerzeugungsmaschinen zugestellt ist. Vor allem aber: man könnte darauf verzichten, sich vorzumachen, dass ein Problem, welches durch Maßlosigkeit entstanden ist, sich durch Maßlosigkeit beheben ließe.
Muss es wirklich immer Patagonien sein? Essay von Sebastian Schoepp über das Wandern in der deutschen Provinz.
Waren wir zu übermütig gewesen? Natürlich. Aber es sah einfach zu verlockend aus. Wir waren im roten Staub auf der Ruine der Burg Wasigenstein gestanden, einem gewaltigen Klumpen Sandsteins mit ausgewaschenen Treppen, erosionszernagten Türmchen und dunklen Höhlen, Game of Thrones auf Pfälzisch. „Guck mal, da unten im Tal, das ist doch schon das Elsass!“, rief Christoph. War der Abstecher noch drin? Klar, der musste drin sein! Also hinab im Laufschritt durch die duftenden Kieferwälder, zur Petit Arnsbourgh. Das war sie doch, die Freiheit! Dann noch ein Törtchen mit Café au lait im Cheval Blanc, Christoph ist einfach eine Kaffeetante. Und dann haben wir uns so richtig verfranst im deutsch-französischen Grenzgebirge, und nun stehen wir abgekämpft in der Dämmerung vor diesem pfälzischen Gasthof, der aussieht, als sei er zuletzt zu Kalli Feldkamps Zeiten beim 1. FC Kaiserslautern modernisiert worden.
Erst nach heftigem Läuten öffnet ein älterer Herr in Schlappen. „Märr häwwet scho gschloofe“ sagt er vorwurfsvoll. Man sei doch hier nicht in der Großstadt! Daran kann allerdings kein Zweifel bestehen. Abgeschabtes Braun-Grün, in der Mitte der Teppiche ausgelatschte Trampelpfade. Ein Hund kläfft. Dann aber tritt die Ehefrau in den Türrahmen und sagt den magischen Satz: „Wollt Ihr Flammkuche?“ Es gibt Fotos, wie wir darüber herfallen mit der Lust, die nur auf Erschöpfung folgt. Die Wirtin zeigt uns den Kühlschrank. Wir sollen uns nehmen was wir wollen und uns ein Zimmer aussuchen. Wir sind die einzigen Gäste, womöglich seit der Meisterschaft des 1.FCK 1991. Eine Flasche Deidesheimer Schaumwein unter dem Arm plumpsen wir in die Liegestühle auf dem Balkon, über uns durchhellt die Mondsichel die schwarzstille Pfälzer Waldnacht.
Die alte Faustregel beim Fernwandern in Deutschland hat sich wieder bestätigt: je abgerockter die Unterkunft, desto netter die Wirtsleute. Bloß nicht abschrecken lassen von Häkeldeckchen und Butzenscheiben, dahinter wartet oft etwas, das allmählich unter Denkmalschutz gehört: eigentlich steht Gemütlichkeit ja für Muff, Schlagergedudel und Eichenholzfurnier. Doch wer die sterile Betriebsamkeit alpiner Wellnessoasen kennt, die Vorhersehbarkeit der touristischen Themenparks, die Hypes der Instagramwelt, der lernt die Überraschungen wieder schätzen, die manche deutsche Fachwerkfassade birgt.
Alles begann im Odenwald. Als Christoph und ich vor Jahren beschlossen, die Hangkante von Darmstadt und Heidelberg entlangzuwandern, wo sich eine Burg an die andere reiht, da war das zunächst nur als Abwechslung vom Arbeitsstress gedacht. Wir trafen tagelang niemanden zwischen und fühlten uns wie Entdecker. Keiner von uns hatte bis dato die geringste Ahnung gehabt, wo Darmstadt überhaupt liegt. Das Fliegen hingegen habe ich inzwischen aufgegeben, nicht nur aus ökologischen Gründen, sondern weil ich keine Lust mehr habe, mich an den Terminals durch die Nacktscanner treiben zu lassen. Anstatt in der Hammelherde vor dem Gate zu stehen, zähle ich Schäfchen auf der Schwäbischen Alb.
Vielleicht muss man ja auch überall gewesen sein, um das schön zu finden. Aber wer in Schwärmen von Dengue-Fieber-Mücken durch den Schlamm ecuadorianischer Ölbohrstellen gewatet ist, der lernt die Süße des Rheinlandes schätzen: die steilen Weinterrassen im Schiefergebirge, in denen es im Sommer warm ist wie in Sizilien. Oder die scharf eingeschnittenen Felstäler der Luxemburgischen Schweiz; das Dahingleiten der Schiffe auf der Mosel; die kathedralen-artigen Buchenhaine am Rande des Westerwalds.
Natürlich haben wir es auch woanders versucht, in Andalusien, in der Toskana. Doch wo Wandern keine Tradition hat, gilt der Fußgänger wenig. Man schluckt Staub auf Forstpisten, wird von Hofhunden gehetzt, krabbelt unter Brombeerhecken durch und wird von Einheimischen bestenfalls bemitleidet. Questi tedeschi… In Deutschland oder England hingegen, wo die Industrialisierung früher begann, stieg mit steigendem Wohlstand bald auch der Überdruss an seinen Schattenseiten. Dichter wie Ludwig Tieck predigten deshalb schon Anfang des 19. Jahrhunderts die erwanderte Weltflucht in die Idylle.
Weltflucht ist heute in Mitteleuropa nur zum Teil möglich, aber das ist ganz gut so. Da fällt man bei der Rückkehr in den Alltag nicht so hart. Vom Odenwald aus sieht man die Schlote der chemischen Industrie flimmern, auf dem Rheinsteig umwandert man solange das stillgelegte Kernkraftwerk Neuwied, bis man sie fast liebgewonnen hat, diese Burgruine des Industrialismus. Der Reiz entsteht aus dem Kontrast. Manches, was ich in der deutschen Provinz sehe, empfinde ich als überraschender als an Fernreisezielen, es ist die Fremdheit im Vertrauten: die sanfte Verschiebung der Dialekte, die Föneffekte in der rheinischen Tiefebene, der eigentlich alpine gelbe Enzian in der Schwäbischen Alb, das geheimnisvolle Kloster ohne Dach in der Oberlausitz.
Buchungstechnisch ist es sowieso eine Labsal. Anders als auf den überfüllten Wander-Parkplätzen im Alpenvorland muss man sich im Hunsrück nicht fühlen wie einer mehr in der Masse; da freut sich die Wirtin noch, wenn jemand kommt. Die Abgeschiedenheit hat natürlich ihre Schattenseiten. Teile der Mitte Deutschlands wirkten wie vergessen und aufgegeben, stellt Jörn Klare in seinem Buch „Nach Hause gehen“ fest, in dem er eine Wanderung von Berlin in seinen westfälischen Herkunftsort beschreibt, durch Kleinstädte mit Discos, die „Wilde Zicke“ heißen, durch Dörfer, die „Trost brauchen“. Manche Ecken Mittelhessens oder der Oberlausitz scheinen Strukturhilfe in der Tat nötiger zu haben als Sardinien. Warum also nicht hier das Urlaubsgeld ausgeben? Passt das nicht perfekt in unsere um die Gute Tat bemühten Zeit? Das haben Fremdenverkehrsverbände in entlegenen Regionen erkannt. Heimatpfleger durchforsten die Archive: kam hier nicht mal einer vorbei, der Goethe kannte? Also Wegweiser an die Forstpisten und fertig ist der Goethe-Trail!
Besser, man hält sich an Wege, die wirklich Geschichte haben. Der Architekt Andrian Zingg erfand in der Sächsischen Schweiz Ende des 18. Jahrhunderts den Ausflugstourismus. Er langweilte sich am Dresdner Hof und bummelte durchs Elbsandsteingebirge, das er idealisiert porträtierte. Damit schärfte er das Bewusstsein für die Schönheit von Landschaft, das es in vorindustriellen Zeiten kaum gegeben hatte. Bald kam Caspar David Friedrich vorbei, man wandert heute auf dem Malerweg zum Nebelmeer im äußersten Osten Deutschlands, durch verwunschene Dörfer mit Bauerngärten, die von 40 Jahren westdeutschen Siedlungsbaus verschont blieben.
Überhaupt, Ost und West: Zum gegenseitigen Verständnis trägt es erheblich bei, wenn man sich als Süddeutscher mal woandershin aufmacht als zum Gardasee. Wie sagte der Metzger an seiner Fleischereitheke im Harz: „Wo kommen sie denn her, aus München? Na det ist ja mal…“ er machte eine sehr lange Pause und schnippelte unsere Wurst „…unjewöhnlich“. Wer über den Harz wandert, stellt überrascht fest, dass der Westteil dreißig Jahre nach der Wende erheblich mitgenommener aussieht als der Osten. Und das liegt nicht nur an der Abwanderung, sondern vor allem an Borkenkäfer und Klimawandel. Die riesige Fichtenmonokultur wurde ab dem 19. Jahrhundert angepflanzt, um die Abholzungen durch die Industrialisierung wettzumachen. Damals war Deutschland erheblich weniger bewaldet als heute. Nun stirbt die Nutzfichte. Was tun? Standortferne Douglasien pflanzen? Oder der Natur auf den neu entstandenen Heidelandschaften freien Lauf lassen wie im Bayerischen Wald?
Über solche Fragen kommt man ins Grübeln beim Fernwandern, was dabei hilft, den mitgebrachten inneren Ballast zu vergessen. Man ist ja auch sehr beschäftigt mit äußerem Ballast. In seiner „Kunst des Wanderns“ schreibt Ulrich Grober, das Gehen sei der Weg zur inneren Autonomie. Es zwingt zur „eigenen, möglichst präzisen Bestimmung der Grundbedürfnisse“. Wie viel schleppe ich mit? Wann komme ich an? Gibt es dort eine Unterkunft? Manch einer stellt dann erstaunt fest, dass er mit der Ferienpension Schöne Aussicht bestens auskommt und gar keine Wellnessanwendungen braucht. Und manchmal entdeckt man abseits der ausgetretenen Pfade ganz neue Wege. Die Wirtin der Monteursunterkunft an der Bergstraße riet uns, den versunkenen jüdischen Friedhof hinter dem Dorf zu besuchen, der in keiner Outdoor-App verzeichnet war. Ein stiller Moment, der lange bleibt.
Ich bezweifle, dass Wandern dazu taugt, berufliche Projekte zu planen oder Lebensentscheidungen zu treffen. Es ist eher eine eskapistische Mimikry des einfachen Lebens. Es simuliert eine Form der Fortbewegung, die früher existenziellen Zwecken diente und führt uns zurück zu unserem nomadischen Ursprung, wie Bruce Chatwin meinte. Er beschrieb den Weg als eine Art geschütztes lineares Territorium, das einem gehört, solange man sich auf ihm bewegt. Deshalb sei stetige Bewegung so beruhigend, deshalb liebten Säuglinge es, herumgetragen zu werden; in ihnen sei das nomadische Erbe noch wach. Auf mich wirkt Fernwandern wie eine subversive Gegenbewegung zu einem Zeitgeist, die alles rationalen Nützlichkeitsinteressen unterordnet. Wer fit werden will, ist beim Joggen besser aufgehoben. Wer viel sehen will, fährt Fahrrad. Wandern ist total nutzlos. Aber Dinge um ihrer selbst willen tun wie ein Kind – ist es nicht das, was wir verlernt haben und so gerne wieder können würden?
Die größte Geißel des Konsummenschen ist beim Fernwandern jedenfalls abgestellt – das sich Entscheiden-müssen. Hier geht es nicht darum, ob wir abends zum Thai oder Italiener gehen. Als Fußgänger musst du nehmen, was kommt, also auch die Lokale, die man am Fettgeruch erkennt, lange bevor man sie sieht. Aber wenn du richtig Hunger hast, schmeckt auch der Hawaiitoast. Im Böhmerwald habe ich mal mangels Alternativen mehrere Tage in einer veganen Unterkunft am Lipno-Stausee verbracht und hätte viel für eine Gulaschsuppe gegeben. Man übt also, sich zu bescheiden. Abgesehen davon, haben Winzer und Wirtsleute in der Provinz eine Menge dazugelernt, eine junge Generation ist um moderne Gastlichkeit jenseits der Schnitzelberge bemüht; nicht umsonst liegen die meisten deutschen Sternelokale auf dem Land.
Nicht mal bei der Wegführung muss man sich groß Gedanken machen. Deutsche Fernwanderwege tragen heute Premium-Siegel und sind von Wander-Wissenschaftlern zertifiziert. Schwierig ist eher das Ankommen. Während etwa Pilger früher noch wussten, warum sie nach Maria Laach in der Eifel latschten oder den Jakobsweg bezwangen, stehen heute viele innerlich leer am Ziel vor der Kathedrale. Wo der Glaube fehlt, fehlt auch die Belohnung. Man steht wieder mit seinen Alltagssorgen da. Spanische Psychiater sprechen deshalb vom Santiago-Syndrom, von der Enttäuschung der Ankunft. In Zeiten des Individualismus empfiehlt es sich vielleicht, seinen Weg unter ein eigenes persönliches Motto stellen. Tim Parks wanderte auf den Spuren Garibaldis von Rom nach Ravenna, um seine italienische Wahlheimat besser kennenzulernen. Jörn Klare wollte wandernd festzustellen, wo er denn nun hingehört – in die Hauptstadt oder in die Provinz? Um am Ende festzustellen: Heimat muss man sich schaffen. Am besten zu Fuß.
Warum wir einer unterschätzten Sozialbeziehung wieder mehr Aufmerksamkeit widmen sollten. Essay von Sebastian Schoepp
Es lebe die Freundschaft!
Mit der Pandemie und der Reduzierung sozialer Kontakte hat das Problem der Einsamkeit vieler Menschen in unserer Gesellschaft einen starken Schub bekommen. Sebastian Schoepp stellt sich dieser Entwicklung mit einem starken Plädoyer zur Rettung der Freundschaft entgegen. In einem weiten Spannungsbogen von der Antike bis in unsere Gegenwart beschreibt er die Freundschaft als soziales Konstrukt und betonstarkes Gefühl einer oft lebenslangen Verbindung mit einem hohen Stellenwert für die Gesellschaft, das soziale Leben und die psychische Gesundheit des Einzelnen. Wir sollten uns für Freundschaften bedingungslos öffnen. Ein Kommentar.
Die Freundschaft ist über jeden Zweifel erhaben, oder? Wenn man in die Geschichte blickt, stößt man jedenfalls allenthalben auf große Worte. Die alten Griechen sahen in ihr einen Pfeiler des Staates, die Philosophie pries sie als die Kraft, die den Menschen erst zum Menschen mache. Im Idealismus wurde sie, etwa von Goethe und Schiller, öffentlich zelebriert. Soziologinnen und Soziologen sprechen ihr heute die Fähigkeit zu, Triebkraft für sozialen Wandel zu sein, die Psychologie sieht in ihr ein Bollwerk gegen Depressionen. Die Feministin Marilyn Friedman schrieb: „Freundschaft stellt in unserer Kultur die unumstrittenste, beständigste und befriedigendste aller engen persönlichen Bindungen“ dar. Alles bestens also?
Mitnichten. Sieht man genauer hin, stellt man fest, dass die Freundschaft sich in einer Krise befindet, ja vielleicht der tiefsten, die sie je durchlaufen hat. Wir netzwerken bis zum Umfallen und ertrinken in Kontakten, doch gleichzeitig grassiert die Einsamkeit, viele Menschen klagen, dass sie in ihrem eng vertakteten Leben zwischen Berufs- und Familienpflichten kaum noch Zeit fänden für echte, tiefe Freundschaften, die das Herz öffnen und den ganzen Menschen erfassen. Denn Freundschaft will gepflegt werden, sie macht also Arbeit. Und haben wir nicht eh schon genug zu tun?
Social Distancing im Zuge der Corona-Pandemie hat alles noch schwieriger gemacht. Die Einsamkeit vieler Menschen in unserer Gesellschaft hat durch die erzwungene Vereinzelung einen starken Schub bekommen. Viele Freundschaften sind zudem über die Meinungsverschiedenheit über die Pandemiemaßnahmen zerbrochen. Freundschaft erhebt den Menschen über das Ziel, behauptet der Psychiater Bodo Unkelbach. Doch die gesellschaftliche Entwicklung verläuft in die entgegengesetzte Richtung: Freundschaften scheitern schon an den kleinsten Meinungsverschiedenheiten über korrekte Lebensführung und politische Sachfragen, was nicht zuletzt die Coronakrise mit Macht gezeigt hat. Wo aber die Sache über dem Menschen steht, da wird Freundschaft unmöglich. Ist sie überhaupt der Mühe wert?
Die Antwort kann nur ein schallendes Ja sein: Gerade unsere von gesellschaftlicher Spaltung, Konflikten und Krieg geprägte Epoche hat freundschaftliche Beziehungen vielleicht nötiger als jede zuvor. Und muss ich einen Freund, eine Freundin wirklich gleich „entfreunden“ oder aus der Filterblase entfernen, nur weil er oder sie zu einem umstrittenen Thema anderer Meinung ist? Oder wachsen wir nicht gerade im Austausch der Meinungen, im freundschaftlichen Widerstreit? Vielleicht kann ich ja etwas dazulernen, vielleicht kann ich die Freundin, den Freund, überzeugen? Eines ist klar: Wer innerlich aufrüstet oder sich abschottet in narzisstisch aufgeladenen „Ego-Netzwerken“, vergibt eine Chance zum inneren Wachstum. Denn eigentlich liegt doch genau darin der Reiz der Freundschaft: voneinander zu lernen.
Und Freundschaft kann noch mehr: Sie kann ein subversiver, fast anarchischer Gegenpol zu dem zwanghaften Leben aus Pflichten und Verbindlichkeiten sein, in das wir uns eingemauert haben. Wer Freundschaft über Grenzen hinweg pflegt, kann zur Völkerverständigung beitragen. Sie kann gesellschaftlichen Wandel herbeiführen. Nicht umsonst war die Freundschaft Autokraten und Diktatoren stets suspekt. Freundeskreise tragen die Kraft zur politischen Veränderung in sich, sie können zu Keimzellen wichtiger Reformen heranreifen.
Von Soziologie wird der Freundschaft besondere Bedeutung für Menschen zugesprochen, die nicht in die normierten Strukturen passen – entweder weil sie nicht wollen oder weil sie aufgrund biografischer, vielleicht traumatischer Kindheits- und Familienerfahrung nicht können. Seit den 1980er Jahren wird diskutiert, ob die Wahlfamilie ein Instrument emotionaler und materieller Absicherung in Konkurrenz zur biologischen Familie sein kann. Schließlich hätten sich, so schrieb einst Ulrich Beck, freundschaftsbasierte Beziehungen im Leben vieler Menschen als die dauerhafteren erwiesen als die erotische Liebesbeziehung.
In der Antike war es normal, dass Freundinnen und Freunde im Alter oder bei Krankheit füreinander einstanden. Können sie uns auch heute wieder auffangen bei existenziellen Problemen? Lange Zeit gab es kaum eine Möglichkeit, tragfähige freundschaftlichen Beziehungen auf ein institutionelles Fundament zu stellen. Das könnte sich jetzt ändern. Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung ist die Absicht festgehalten, das Rechtsinstrument der „Verantwortungsgemeinschaft“ zu etablieren, über das Freundschaften ähnlich rechtlich abgesichert werden könnten, wie das bisher nur über die Ehe oder die eingetragene Lebenspartnerschaft möglich ist. Zweifellos der richtige Weg, den gesellschaftlichen Verhältnissen gerecht zu werden, die uns zu ständiger Mobilität zwingen, in der tradierte Beziehungen sich auflösen und Verwandtschaftlichkeit immer seltener gelebt wird.
Eines jedoch muss auch klar sein: Freundschaft darf nicht mit Erwartungen überfrachtet werden, sie gehorcht keinem Nutzwert. Wer Freundschaft zu erzwingen sucht, wird sie verlieren. Sie ist und bleibt ihrem Wesen nach eine Beziehung unter Gleichen, die auf Freiwilligkeit beruht. Sie sei durchdrungen von Verantwortungslosigkeit, von köstlicher Willkür, warnte C.S. Lewis. Und hatte er nicht Recht? Freundschaft macht nicht reich, sie ernährt uns nicht und sorgt nicht für Nachkommen, sie ist eigentlich völlig überflüssig – so überflüssig wie die Kunst, die Kultur, die Philosophie, die Musik. Und sind es nicht zuletzt solche Dinge, die unserem Leben Leichtigkeit verleihen?
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