Muss es wirklich immer Patagonien sein? Essay von Sebastian Schoepp über das Wandern in der deutschen Provinz.
Waren wir zu übermütig gewesen? Natürlich. Aber es sah einfach zu verlockend aus. Wir waren im roten Staub auf der Ruine der Burg Wasigenstein gestanden, einem gewaltigen Klumpen Sandsteins mit ausgewaschenen Treppen, erosionszernagten Türmchen und dunklen Höhlen, Game of Thrones auf Pfälzisch. „Guck mal, da unten im Tal, das ist doch schon das Elsass!“, rief Christoph. War der Abstecher noch drin? Klar, der musste drin sein! Also hinab im Laufschritt durch die duftenden Kieferwälder, zur Petit Arnsbourgh. Das war sie doch, die Freiheit! Dann noch ein Törtchen mit Café au lait im Cheval Blanc, Christoph ist einfach eine Kaffeetante. Und dann haben wir uns so richtig verfranst im deutsch-französischen Grenzgebirge, und nun stehen wir abgekämpft in der Dämmerung vor diesem pfälzischen Gasthof, der aussieht, als sei er zuletzt zu Kalli Feldkamps Zeiten beim 1. FC Kaiserslautern modernisiert worden.
Erst nach heftigem Läuten öffnet ein älterer Herr in Schlappen. „Märr häwwet scho gschloofe“ sagt er vorwurfsvoll. Man sei doch hier nicht in der Großstadt! Daran kann allerdings kein Zweifel bestehen. Abgeschabtes Braun-Grün, in der Mitte der Teppiche ausgelatschte Trampelpfade. Ein Hund kläfft. Dann aber tritt die Ehefrau in den Türrahmen und sagt den magischen Satz: „Wollt Ihr Flammkuche?“ Es gibt Fotos, wie wir darüber herfallen mit der Lust, die nur auf Erschöpfung folgt. Die Wirtin zeigt uns den Kühlschrank. Wir sollen uns nehmen was wir wollen und uns ein Zimmer aussuchen. Wir sind die einzigen Gäste, womöglich seit der Meisterschaft des 1.FCK 1991. Eine Flasche Deidesheimer Schaumwein unter dem Arm plumpsen wir in die Liegestühle auf dem Balkon, über uns durchhellt die Mondsichel die schwarzstille Pfälzer Waldnacht.
Die alte Faustregel beim Fernwandern in Deutschland hat sich wieder bestätigt: je abgerockter die Unterkunft, desto netter die Wirtsleute. Bloß nicht abschrecken lassen von Häkeldeckchen und Butzenscheiben, dahinter wartet oft etwas, das allmählich unter Denkmalschutz gehört: eigentlich steht Gemütlichkeit ja für Muff, Schlagergedudel und Eichenholzfurnier. Doch wer die sterile Betriebsamkeit alpiner Wellnessoasen kennt, die Vorhersehbarkeit der touristischen Themenparks, die Hypes der Instagramwelt, der lernt die Überraschungen wieder schätzen, die manche deutsche Fachwerkfassade birgt.
Alles begann im Odenwald. Als Christoph und ich vor Jahren beschlossen, die Hangkante von Darmstadt und Heidelberg entlangzuwandern, wo sich eine Burg an die andere reiht, da war das zunächst nur als Abwechslung vom Arbeitsstress gedacht. Wir trafen tagelang niemanden zwischen und fühlten uns wie Entdecker. Keiner von uns hatte bis dato die geringste Ahnung gehabt, wo Darmstadt überhaupt liegt. Das Fliegen hingegen habe ich inzwischen aufgegeben, nicht nur aus ökologischen Gründen, sondern weil ich keine Lust mehr habe, mich an den Terminals durch die Nacktscanner treiben zu lassen. Anstatt in der Hammelherde vor dem Gate zu stehen, zähle ich Schäfchen auf der Schwäbischen Alb.
Vielleicht muss man ja auch überall gewesen sein, um das schön zu finden. Aber wer in Schwärmen von Dengue-Fieber-Mücken durch den Schlamm ecuadorianischer Ölbohrstellen gewatet ist, der lernt die Süße des Rheinlandes schätzen: die steilen Weinterrassen im Schiefergebirge, in denen es im Sommer warm ist wie in Sizilien. Oder die scharf eingeschnittenen Felstäler der Luxemburgischen Schweiz; das Dahingleiten der Schiffe auf der Mosel; die kathedralen-artigen Buchenhaine am Rande des Westerwalds.
Natürlich haben wir es auch woanders versucht, in Andalusien, in der Toskana. Doch wo Wandern keine Tradition hat, gilt der Fußgänger wenig. Man schluckt Staub auf Forstpisten, wird von Hofhunden gehetzt, krabbelt unter Brombeerhecken durch und wird von Einheimischen bestenfalls bemitleidet. Questi tedeschi… In Deutschland oder England hingegen, wo die Industrialisierung früher begann, stieg mit steigendem Wohlstand bald auch der Überdruss an seinen Schattenseiten. Dichter wie Ludwig Tieck predigten deshalb schon Anfang des 19. Jahrhunderts die erwanderte Weltflucht in die Idylle.
Weltflucht ist heute in Mitteleuropa nur zum Teil möglich, aber das ist ganz gut so. Da fällt man bei der Rückkehr in den Alltag nicht so hart. Vom Odenwald aus sieht man die Schlote der chemischen Industrie flimmern, auf dem Rheinsteig umwandert man solange das stillgelegte Kernkraftwerk Neuwied, bis man sie fast liebgewonnen hat, diese Burgruine des Industrialismus. Der Reiz entsteht aus dem Kontrast. Manches, was ich in der deutschen Provinz sehe, empfinde ich als überraschender als an Fernreisezielen, es ist die Fremdheit im Vertrauten: die sanfte Verschiebung der Dialekte, die Föneffekte in der rheinischen Tiefebene, der eigentlich alpine gelbe Enzian in der Schwäbischen Alb, das geheimnisvolle Kloster ohne Dach in der Oberlausitz.
Buchungstechnisch ist es sowieso eine Labsal. Anders als auf den überfüllten Wander-Parkplätzen im Alpenvorland muss man sich im Hunsrück nicht fühlen wie einer mehr in der Masse; da freut sich die Wirtin noch, wenn jemand kommt. Die Abgeschiedenheit hat natürlich ihre Schattenseiten. Teile der Mitte Deutschlands wirkten wie vergessen und aufgegeben, stellt Jörn Klare in seinem Buch „Nach Hause gehen“ fest, in dem er eine Wanderung von Berlin in seinen westfälischen Herkunftsort beschreibt, durch Kleinstädte mit Discos, die „Wilde Zicke“ heißen, durch Dörfer, die „Trost brauchen“. Manche Ecken Mittelhessens oder der Oberlausitz scheinen Strukturhilfe in der Tat nötiger zu haben als Sardinien. Warum also nicht hier das Urlaubsgeld ausgeben? Passt das nicht perfekt in unsere um die Gute Tat bemühten Zeit? Das haben Fremdenverkehrsverbände in entlegenen Regionen erkannt. Heimatpfleger durchforsten die Archive: kam hier nicht mal einer vorbei, der Goethe kannte? Also Wegweiser an die Forstpisten und fertig ist der Goethe-Trail!
Besser, man hält sich an Wege, die wirklich Geschichte haben. Der Architekt Andrian Zingg erfand in der Sächsischen Schweiz Ende des 18. Jahrhunderts den Ausflugstourismus. Er langweilte sich am Dresdner Hof und bummelte durchs Elbsandsteingebirge, das er idealisiert porträtierte. Damit schärfte er das Bewusstsein für die Schönheit von Landschaft, das es in vorindustriellen Zeiten kaum gegeben hatte. Bald kam Caspar David Friedrich vorbei, man wandert heute auf dem Malerweg zum Nebelmeer im äußersten Osten Deutschlands, durch verwunschene Dörfer mit Bauerngärten, die von 40 Jahren westdeutschen Siedlungsbaus verschont blieben.
Überhaupt, Ost und West: Zum gegenseitigen Verständnis trägt es erheblich bei, wenn man sich als Süddeutscher mal woandershin aufmacht als zum Gardasee. Wie sagte der Metzger an seiner Fleischereitheke im Harz: „Wo kommen sie denn her, aus München? Na det ist ja mal…“ er machte eine sehr lange Pause und schnippelte unsere Wurst „…unjewöhnlich“. Wer über den Harz wandert, stellt überrascht fest, dass der Westteil dreißig Jahre nach der Wende erheblich mitgenommener aussieht als der Osten. Und das liegt nicht nur an der Abwanderung, sondern vor allem an Borkenkäfer und Klimawandel. Die riesige Fichtenmonokultur wurde ab dem 19. Jahrhundert angepflanzt, um die Abholzungen durch die Industrialisierung wettzumachen. Damals war Deutschland erheblich weniger bewaldet als heute. Nun stirbt die Nutzfichte. Was tun? Standortferne Douglasien pflanzen? Oder der Natur auf den neu entstandenen Heidelandschaften freien Lauf lassen wie im Bayerischen Wald?
Über solche Fragen kommt man ins Grübeln beim Fernwandern, was dabei hilft, den mitgebrachten inneren Ballast zu vergessen. Man ist ja auch sehr beschäftigt mit äußerem Ballast. In seiner „Kunst des Wanderns“ schreibt Ulrich Grober, das Gehen sei der Weg zur inneren Autonomie. Es zwingt zur „eigenen, möglichst präzisen Bestimmung der Grundbedürfnisse“. Wie viel schleppe ich mit? Wann komme ich an? Gibt es dort eine Unterkunft? Manch einer stellt dann erstaunt fest, dass er mit der Ferienpension Schöne Aussicht bestens auskommt und gar keine Wellnessanwendungen braucht. Und manchmal entdeckt man abseits der ausgetretenen Pfade ganz neue Wege. Die Wirtin der Monteursunterkunft an der Bergstraße riet uns, den versunkenen jüdischen Friedhof hinter dem Dorf zu besuchen, der in keiner Outdoor-App verzeichnet war. Ein stiller Moment, der lange bleibt.
Ich bezweifle, dass Wandern dazu taugt, berufliche Projekte zu planen oder Lebensentscheidungen zu treffen. Es ist eher eine eskapistische Mimikry des einfachen Lebens. Es simuliert eine Form der Fortbewegung, die früher existenziellen Zwecken diente und führt uns zurück zu unserem nomadischen Ursprung, wie Bruce Chatwin meinte. Er beschrieb den Weg als eine Art geschütztes lineares Territorium, das einem gehört, solange man sich auf ihm bewegt. Deshalb sei stetige Bewegung so beruhigend, deshalb liebten Säuglinge es, herumgetragen zu werden; in ihnen sei das nomadische Erbe noch wach. Auf mich wirkt Fernwandern wie eine subversive Gegenbewegung zu einem Zeitgeist, die alles rationalen Nützlichkeitsinteressen unterordnet. Wer fit werden will, ist beim Joggen besser aufgehoben. Wer viel sehen will, fährt Fahrrad. Wandern ist total nutzlos. Aber Dinge um ihrer selbst willen tun wie ein Kind – ist es nicht das, was wir verlernt haben und so gerne wieder können würden?
Die größte Geißel des Konsummenschen ist beim Fernwandern jedenfalls abgestellt – das sich Entscheiden-müssen. Hier geht es nicht darum, ob wir abends zum Thai oder Italiener gehen. Als Fußgänger musst du nehmen, was kommt, also auch die Lokale, die man am Fettgeruch erkennt, lange bevor man sie sieht. Aber wenn du richtig Hunger hast, schmeckt auch der Hawaiitoast. Im Böhmerwald habe ich mal mangels Alternativen mehrere Tage in einer veganen Unterkunft am Lipno-Stausee verbracht und hätte viel für eine Gulaschsuppe gegeben. Man übt also, sich zu bescheiden. Abgesehen davon, haben Winzer und Wirtsleute in der Provinz eine Menge dazugelernt, eine junge Generation ist um moderne Gastlichkeit jenseits der Schnitzelberge bemüht; nicht umsonst liegen die meisten deutschen Sternelokale auf dem Land.
Nicht mal bei der Wegführung muss man sich groß Gedanken machen. Deutsche Fernwanderwege tragen heute Premium-Siegel und sind von Wander-Wissenschaftlern zertifiziert. Schwierig ist eher das Ankommen. Während etwa Pilger früher noch wussten, warum sie nach Maria Laach in der Eifel latschten oder den Jakobsweg bezwangen, stehen heute viele innerlich leer am Ziel vor der Kathedrale. Wo der Glaube fehlt, fehlt auch die Belohnung. Man steht wieder mit seinen Alltagssorgen da. Spanische Psychiater sprechen deshalb vom Santiago-Syndrom, von der Enttäuschung der Ankunft. In Zeiten des Individualismus empfiehlt es sich vielleicht, seinen Weg unter ein eigenes persönliches Motto stellen. Tim Parks wanderte auf den Spuren Garibaldis von Rom nach Ravenna, um seine italienische Wahlheimat besser kennenzulernen. Jörn Klare wollte wandernd festzustellen, wo er denn nun hingehört – in die Hauptstadt oder in die Provinz? Um am Ende festzustellen: Heimat muss man sich schaffen. Am besten zu Fuß.